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Für die Zeitschrift „GLAUBEN leben“ (Butzon & Bercker 4/2001) Heft April 2001,Thema: „Im Umbruch – Leben-Krankheit-Tod“ Rubrik „Wendepunkte in meinem Leben (Biographisches)“


Notsituationen als Weg-Zeichen

Nachdem sich mein Leben zweimal radikal um 180 Grad geändert hat, erkenne ich rückblickend immer wieder Seine Hand, Sein Wirken in so vielen Begebenheiten, Begegnungen, Freundschaften und Hinweisen auf meine Aufgabe, die ich darin sehe, andere zu ermutigen, die Erfahrung Seiner Treue und Weg-Begleitung weiterzugeben.
Zunächst verlief mein Leben wie das zahlloser anderer Frauen auch:
Ausbildung, Beruf als Ärztin, Heirat eines Kollegen, 4 Kinder – die Familie hat mich voll ausgefüllt. Scherzhaft meinte mein Mann, er versorge die Patienten in der Praxis, ich kümmere mich um die Kinderkrankheiten zu Hause. Als erstes Weihnachtsgeschenk wünschte ich mir von meinem Mann ein Kinderheilkunde-Lehrbuch.

Am 20.12.1980, also 4 Tage vor Weihnachten, trat der 1.Wendepunkt in meinem Leben ein.
Beim Überqueren der Straße vor unserer Pfarrkirche erlitt ich einen lebensgefährlichen Verkehrsunfall, in dessen Folge ich zahlreiche Stadien eines Behinderten durchlebte. Niemand ahnte, dass ich den Unfall so gut überwinden würde. Zwar bin ich aufgrund einiger Schwachstellen jetzt nicht mehr berufsfähig, aber neue Möglichkeiten und Fähigkeiten haben sich für mich aufgetan.
Ich begann zu schreiben, zunächst nur für mich selbst, dann wurde es mehr.
In kurzen Texten, Gedichten und Meditationen versuchte ich das Erlebte zu verarbeiten.

Wie ich fühle mit Behinderten
seit ich diese Schwäche hab´ erfahren,
seit sich meine Kräfte so verminderten,
dass ich mich so uralt fühlt an Jahren,
seit ich weiß, was Ohnmacht ist,
seit ich weiß, was kleinste Hilfe kann bedeuten,
seit ich Leid erfahren, das man nicht vergisst, 
seit ich weiß, wie stark die Lieb´ zu allen Zeiten.

Herr, gib, dass ich nie in Kleinlichkeiten wühle,
lass mich nie im Alltagseinerlei verloren gehen,
lass mich immer spür´n des Mitmenschen Gefühle, 
lass mich immer andrer Not und Elend sehen,
lass mich nie am „Du“ vorübergehen,
lass mich immer meine Hilfe leisten,
lass mich nie gefühllos, kalt vorüberziehen,
lass mich sehn, wo ich gebraucht am meisten.

Dank sei Dir, Herr, dass Du mich gerissen
aus der Gottverlassenheit,
dass ich hab´ erfahren müssen,
dass Du hilfst, auch in der Einsamkeit,
Dank sei Dir, dass Du mich nicht verzweifeln ließest,
dass in Not ich nicht alleine war,
dass Du Deine Güte auch im Leid bewiesest,
dass mir half, mich trug die Freundesschar. 
(unveröffentlicht)

Die ersten Texte reimten sich noch, was viel schneller ging als die freie Form, die sich später entwickelte. Auch versuchte ich, Wesentliches möglichst kurz und dicht zu sagen. Nie hatte ich so etwas zuvor gemacht, abgesehen vielleicht von kindlichen Versen zum Geburtstag der Eltern.

Der 2.Wendepunkt in meinem Leben trat 1991 ein.
Mein Mann wurde plötzlich schwer krank, konnte von einem auf den anderen Tag nicht mehr in seiner Praxis arbeiten.
Für mich stürzte eine Welt ein, hatte ich doch bislang immer geglaubt, selbst die Hilfsbedürftige zu sein und musste nun meinen Mann stützen.
Statt Psychopharmaka zu nehmen, setzte ich mich, wie von einer höheren Macht getrieben, an die Schreibmaschine. „Hiob“ entstand.

Hiob

Herr,
wenn meine Seele
schreit vor Schmerz,
wenn mein Herz
zittert vor Angst,
wenn mein Innerstes
erbebt vor Zorn,
dann schenke mir
die Kraft Deiner Gegenwart,
damit ich hier und heute
Liebe leben kann.

Nun wusste ich, „hier und heute“ musste ich versuchen, meine Aufgaben so gut wie möglich zu erfüllen. Das „Morgen“ würde sich finden. 

Kurz vor seinem Tod schrieb mir mein Mann – reden konnte er nicht darüber - : „Es ist merkwürdig, wie sich die Ereignisse wiederholen, 1980 war ich für Dich da, jetzt bist Du für mich da.“ 

Uns blieb noch 1 besonders gutes, intensives Jahr. Mein Mann starb zu Hause. Ich konnte ihn in den letzten Stunden begleiten, was mich heute mit großem Dank erfüllt

Mit Hilfe von Grafiker-Freunden erschien noch zu Lebzeiten meines Mannes mein 1. Buch „Wege der Hoffnung“ im Selbst-Verlag. Ich habe es ihm gewidmet.

Nach dem Tod meines Mannes wusste ich nicht, wie es weitergehen sollte.

Da begegnete ich Prof. Heinrich Fries (1911-1998),* der mich unglaublich ermutigte und mir wieder Hoffnung gab.
Als er zur 2.Auflage meines 1.Buches das Vorwort schrieb, merkte ich erst, dass er sich sein Leben lang mit der Hoffnung beschäftigt hatte. Er strahlte sie auch aus, so wie ich es selten bei einem Menschen gesehen habe.
Gemeinsame Grenzerfahrungen – er nach einer schweren Krankheit, ich nach meinem Unfall – und das Thema „Hoffnung“ (Guardini nennt das „Passwort“) führten zu einer tiefen Freundschaft, deren Gespräche sich vor allem mit Sterben-Tod-Auferstehung, dem „Blick über den Horizont hinaus“ befassten.
Mein 2. Buch „Hoffnungslichter“ habe ich Heinrich Fries in großer Dankbarkeit gewidmet. Dass ich ihn traf in einem der schwärzesten Augenblicke meines Lebens, war für mich eine Fügung.

Fügung

Wenn viele Lichtpunkte
sich zu einem Strahl vereinigen,
der nach oben zeigt,
ist es schwer,
an Zufälle zu glauben.
Eine Hand wird spürbar,
die lenkt und trägt,
die umfängt und beschützt.
Vertrauen wächst,
Angst schwindet.

Heinrich Fries ermutigte mich immer wieder beim Schreiben meiner Texte. Ihm habe ich sie bis zu seinem Tod alle vorgelesen, meist per Telefon. So freute es mich sehr, dass er das Erscheinen meines 4. Buches „Spuren des Lichts“ noch miterlebte. Ich habe dieses Buch Bernhard Häring in memoriam gewidmet, diesem großartigen Moral-Theologen, dem ich auch in seinen letzten Lebensjahren persönlich begegnen durfte.

Das dritte Buch „Hoffen wider alle Hoffnung“ habe ich den „Kranken, Schwachen und Behinderten“ gewidmet unter dem Eindruck der vielen Parkinson-Kranken, in deren Selbsthilfe-Gruppen ich zahlreiche Lesungen halten durfte.
Immer von neuem hat es mich berührt zu erleben, wie aufmerksam und konzentriert die Menschen dem Vortrag meiner Texte in meinen Lesungen zuhörten
Besonders kranke und alte Menschen, sowie Menschen in schwierigen Lebenssituationen sind meine Ansprech-Partner, Menschen, die gewöhnlich keine Lobby haben. Ihnen von der Hoffnung, die über den Horizont hinausgeht, von der Kraft und Hilfe „von oben“ zu erzählen, zu bezeugen, wer und was mir geholfen hat und immer wieder Mut für die Zukunft gibt, darin sehe ich meine Aufgabe.


Darin hilft mir meine Freiheit, die ich nun, da alle Kinder erwachsen sind und auf eigenen Beinen stehen, beglückend empfinde.
Seit meinem Unfall ist für mich das wichtigste Fest im Kirchenjahr Ostern. Nach meinem Unfall habe ich diese Hoffnung, ja die Gewissheit auf Auferstehung sozusagen körperlich erfahren. 
Dass Er meine körperlichen Unzulänglichkeiten gewandelt hat in die Fähigkeit, meine positiven Erfahrungen, die über unseren Horizont hinausreichen, ins Wort zu setzen, erfüllt mich immer wieder mit Dank, sehe ich doch darin den Weg, den Er mir gewiesen hat, den Sinn, den Er mir gezeigt hat. So entstanden immer wieder Auferstehungs-Texte.
Mein Glaube, der für mich immer wichtig war, ist nach meinen Not-vollen Lebenssituationen sehr weit und unendlich tief geworden. Die Eucharistie ist lebens-Not-wendig 
Im Gebet habe ich einen Ansprechpartner, der mir zuhört, dessen Gegenwart mir immer bewusst ist. Das empfinde ich dankbar als ganz großes Geschenk, das mir hoffentlich nie mehr verloren geht.
So schließe ich mit einem Oster-Gedicht:

Emmaus

Flucht vor
dem Unbegreiflichen,
dem Unausweichlichen,
der Stätte des Grauens,
dem Tod.
Doch der Herr
begleitet
die Geängstigten,
die Mutlosen,
die Verzweifelten.
Er lässt uns nicht allein,
Er geht mit uns den Weg,
Er teilt mit uns das Brot,
Er spricht zu uns,
Er öffnet unsere Augen.
Scheinbar allein
kehren wir zurück
und stellen uns
und begreifen:
Er trägt uns
zum LEBEN in Fülle.